Ich bin Mitglied bei Pro Litteris (Schweizer Pendant zu VG Wort). Die Stiftung gibt zwei Mal im Jahr eine Gazette heraus, mehrsprachig und meistens sehr interessant. In der letzten Ausgabe ging es um Jugendliteratur. Sie war total gescheit geschrieben, sehr, sehr anspruchsvoll, sehr akademisch und sehr analytisch. Aber ich gestehe: Ich hätte das verdammte Heft vor Wut und Zorn am liebsten gefressen. Es hatte nichts, absolut nichts mit den Jugendlichen zu tun, vor denen ich lese und für die ich schreibe. Ja, es gipfelte sogar irgendwo in einer Aussage eines Lehrers, der fand, Jugendlitertur sei zu wenig anspruchsvoll, es gebe generell keine anspruchsvolle Jugendliterar; er suche für seine SchülerInnen lieber Texte, die sie zum Denken anregen. Das war der Moment, in dem ich das Ding in die Ecke gepfeffert habe. Ich hab's dann wieder hervorgeholt und mir die Bildreihe der Jugendlichen angesehen, die nach ihren Lieblingsbüchern gefragt wurden - und ja, da waren sie, die Jugendlichen, die ich bei den Lesungen kennenlerne und ihre Lieblingsbücher waren so erfrischend nahe am Buchgeschehen wie kein einziger der geschriebenen Artikel.
Erstens: Es gibt sie, die sehr anspruchsvolle Jugendliteratur. Wer je Kevin Brooks (als Beispiel, es gibt noch viele andere) gelesen hat, der weiss das. Und zweitens: Ja, es gibt auch die weniger anspruchsvolle Jugendliteratur. Womit wir in den "Niederungen" der Jugendliteratur sind. Auf diese "Niederungen", die für mich keine sind, möchte ich jetzt mal den Scheinwerfer richten. In diesen "Niederungen" finden sich Bücher, die sprachlich und handwerklich super gemacht sind, die sich jedoch ganz bewusst an Jugendliche richten, die den Weg zum Lesen noch nicht gefunden haben, die die Welt der Geschichten erst noch entdecken müssen. Das sind die Jugendlichen, die Lesen als Müssen empfinden, nicht als Dürfen. Sie brauchen andere Bücher als die Leseratten. Sie müssen dort abgeholt werden, wo sie stehen, nicht dort, wo sie der Herr Gymnasiallehrer, der Jugendliteratur nicht anspruchsvoll findet, haben will. Für mich als Autorin ist es das Grösste, zu hören bekommen: "Sie. Ich habe noch nie ein Buch zu Ende gelesen. Aber Ihres schon. Das war total spannend." Von so einem Buch möchte ich abschliessend aus aktuellem Anlass berichten.
Frau Tochter hat, obwohl aus einer leseverrückten Famile, sehr lange nicht gelesen. Was immer ich vorschlug, interessierte sie nicht. Bis eines Tages ein Buch auf dem Küchentisch lag, das ich unbedingt lesen wollte. Sie sah es, schnappte es sich, brachte es zwei Tage später zurück und fragte: "Gibt es einen zweiten Band dazu?" Das war der Anfang. Frau Tochter wurde durch ein Buch zur Leserin, das es nie in die Sparte "anspruchsvolle Jugendliteratur" schaffen wird. Aber es hat sie gepackt. Es hat sie reingezogen. Joachim Friedrich, der die PinkMuffin-Bücher zusammen mit Hortense Ullrich geschrieben hat, hat heute Geburstag. Ich gratuliere ihm und danke ihm dafür, das er das Buch geschrieben hat, das alles verändert hat. Um dem Herrn Gymnasiallehrer noch ein paar Sätze um die Ohren zu hauen (ja, ich bin wütend auf ihn, sehr, sehr wütend): Frau Tochter liest heute komplexe Fachlitertur, sie liest anerkannte, anspruchsvolle, herausfordernde Literaten, bewegt sich weit weg vom Mainstream. Aber angefangen hat alles in den "Niederungen" der Jugendliteratur.
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