Mittwoch, 14. August 2024

Showbusiness für schüchterne Menschen

Nicht selten werde ich bei Lesungen gefragt, ob ich auf der Strasse erkannt werde. Wenn ich dann sage: "Nein, zum Glück nicht" ernte ich erstaunte Blicke, denn Fame ist heute gleichermassen Auszeichnung und Währung. Wer Fame hat, ist wer. Und zum Fame  gehört für die meisten Sichtbarkeit, also ein bekanntes Gesicht.

Nach meiner Antwort stelle ich eine Gegenfrage: "Wer weiss, wie die Autorin von Tribute von Panem aussieht? Oder der Autor von Gregs Tagebüchern?" Keine einzige Hand geht nach oben. 

Dann erzähle ich, dass es mir genau gleich geht. Wie ich durch grosse Buchmessen gelaufen bin, vorbei an unendlich vielen Leuten, unter denen bestimmt ganz tolle und ganz bekannte Autorinnen und Autoren gewesen sind. Aber weil ich von den meisten keine Ahnung habe, wie sie aussehen, habe ich sie nicht erkannt, auch nicht die berühmten, die Zehntausende, Hunderttausende, Millionen von Büchern verkauft haben (okay, es gibt Ausnahmen). Weil die allermeisten von uns schlicht keine Ahnung haben, wie die Autoren und Autorinnen der Bücher aussehen, die wir lesen. 

Damit ist das "Nein" meiner Antwort geklärt. Es beweist, dass Fame nicht unbedingt etwas mit Sichtbarkeit zu tun hat. Aber da ist noch der zweite Teil meiner Antwort, das"zum Glück".

Ich habe nicht den Wahnsinns-Fame, aber selbst wenn ich den hätte, würde ich auf der Strasse lieber nicht erkannt werden. Weil ich eine sehr private Person bin. Weil ich tief in meinem Innern schüchtern bin (man kann lernen, das zu überspielen und gut damit umzugehen). Weil ich mit dem Erkanntwerden schlecht umgehen kann. Mittlerweile bin ich wenigstens so weit, dass ich mich echt freuen kann, wenn mich jemand erkennt, aber halt auch nur, weil mir das extrem selten passiert. Die Vorstellung, ein öffentliches Gesicht zu sein, überfordert mich. 

Heute bin ich auf der Suche nach einem Autorenzitat über das Schreiben bei Lee Child auf den einen Satz gestossen, der das alles in Kürzestform auf den Punkt bringt.  

"Writing is showbusiness for shy people. That's how I see it."

Yap, das sehe ich auch so. Danke, Lee Child. Ich kann damit beim nächsten Mal auf die Frage, ob man mich auf der Strasse erkennt, eine viel bessere Antwort geben als bisher.  

Nachtrag: Mir ist noch etwas eingefallen. Man könnte den Satz ergänzen: "Writing is showbusines for shy and introvert people."

4 Kommentare:

Hanspeter hat gesagt…

Yap, das sehe ich auch so. Danke, Lee Child, für diesen Satz, der es perfekt auf den Punkt bringt: Schreiben ist tatsächlich das Showbusiness für schüchterne Menschen. Eine bessere Antwort auf die Frage, ob man auf der Strasse erkannt werden will, könnte es kaum geben.

Alice Gabathuler hat gesagt…

Das finde ich auch, Hanspeter, und ich wünsche mir, ich hätte dieses Zitat schon vor Jahren entdeckt. Aber besser spät als nie.
Herzlich
Alice

Jutta Wilke hat gesagt…

Das erinnert mich an eine nette Begebenheit in einer Primarschule vor längerer Zeit. Der Junge fragte mich: "Kannst du noch einkaufen gehen?" Da wir vorher darüber gesprochen habe, wie Schriftsteller:innen eigentlich bezahlt werden, dachte ich, er redet von meiner finanziellen Situation und antwortete: "Naja, manchmal ist es knapp, aber verhungern muss ich nicht."
Was er tatsächlich meinte, war aber: Kann ich noch unerkannt einkaufen gehen oder muss ich an jeder Ecke Autogramme geben? *lach
Zum Glück muss ich das nicht. Allerdings würde ich mir tatsächlich oft etwas mehr Sichtbarkeit wünschen. Fänd es schon schön, wenn Autor:innen auch in der Öffentlichkeit ein Gesicht hätten und mehr beachtet würden. Allerdings bin ich auch kein bisschen schüchtern :-)
Alles Liebe
Jutta

Alice Gabathuler hat gesagt…

Was für eine berührende (und auch witzige) Geschichte, Jutta. Danke. Ich glaube, ich muss meinem Post ein PS hinzufügen. Man kann "schüchtern" auch mit "introvertiert" ersetzen, dann passt es auch. Auf dass dich viele Menschen auf der Strasse erkennen!