Liebe Jutta
Vielen lieben Dank für
deine Antwort auf meine E-Mail an dich.
Wie gut ich das mit den fehlenden Worten verstehe. Ich habe zwar Worte für und in Mails und Social Media gefunden, auch Worte ganz privat mit meinen Liebsten. Ja, sogar für virtuelle Kurzlesungen haben sie gereicht (mehr dazu weiter unten). Mir fehlten die Worte in anderen Bereichen des Lebens.
Beim Schreiben meiner Geschichten: Ich schreibe immer noch nicht. Weil ich immer noch nicht weiss, wie. Meine Geschichten spielen im realen Leben, das seit Wochen surreal ist. Nichts, was ich schreiben würde, wäre von Bestand. Was heute gilt, gilt morgen nicht mehr. Wir Autoren nennen das "Setting" - und zurzeit wandelt sich das Setting täglich. Es ist mir ein Rätsel, wie ich dieses Problem angehen oder gar lösen könnte, mal abgesehen davon, dass ich meine Geschichten einfach zurückdatieren könnte. Vielleicht werde ich das irgendwann machen müssen, aber im Augenblick liegen meine Projekte erst einmal auf Eis.
Beim Lesen: Ich habe letzten Monat ein halbes Buch gelesen. Mehr nicht. Ich verstehe nicht, warum das so ist. Keine Ahnung. Gut, die ersten zwei Drittel des April hatte ich keine Zeit. Die hätte ich aber mittlerweile. Doch es hakt.
Was mich am meisten erstaunt: Ich vermisse weder das Schreiben noch das Lesen. Beides will ich nicht hinterfragen, sondern einfach mal so hinnehmen. Spätestens Mitte Mai werde ich wieder schreiben müssen, weil es dann mit dem Radioprojekt weitergehen soll. Und ich bin sicher, dass ich früher oder später wieder begeistert in Bücher eintauchen werde.
Meine freie Zeit nutze ich im Moment für den Garten, den Hausputz, das Entrümpeln. Du siehst, da haben wir vieles gemeinsam. Das Entrümpeln geht nur langsam vor sich, weil ich im Estrich begonnen habe und da ziemlich schnell auf die Zeichnungen der Kinder gestossen bin. Da ich sie nicht einfach wegwerfen wollte, habe ich beide Kinder gefragt, ob sie sich die Zeichnungen noch anschauen wollen. Beide haben geantwortet, ich solle ihnen doch einfach ein paar fotografieren.
Und so blieb ich an den Zeichnungen hängen. Frau Tochter hatte noch Witze darüber gemacht, dass ich mir jetzt jede Menge Bauchnäbel anschauen könne. Was sie meinte, wurde mir ziemlich schnell klar. Beim ersten Bauchnabel hatte ich einen Lachflash. Bei den weiteren kam ich ins Staunen. Ich habe Frau Tochter ein paar Bauchnabelzeichnungen geschickt, sie hat mir eine Bauchnabelerklärung gegeben, und danach haben wir stundenlang gemeinsam Bilder angeschaut. Am Ende habe ich ganz viele Zeichnungen weggeworfen, aber auch viele behalten. Ich brachte es nicht übers Herz, alle wegzuwerfen. Das müssen unsere Kinder dann mal tun, wenn ich nicht mehr da bin.
Von den Zeichnungen ging es zu den Fotos. All jenen, die es nicht in ein Fotoalbum geschafft haben. Ich sass vor den Schachteln und dachte: So, Frau, jetzt machst du für beide Kinder ein Album über ihre Kindheit. Tja ... und dann habe ich damit begonnen. Du ahnst es, Jutta, diese Estrichentrümpelung wird JAHRE dauern.
Auch beim Hausputz wurde ich ausgebremst. Weil ich eine alte Leiter gefunden habe. Die doch perfekt in ein Zimmer passte. Noch perfekter mit Zimmerpflanzen drauf ... Und dann habe ich mich entschieden, endlich dieses Möbel anzustreichen, das schon lange ... Ich habe mit Farben experimentiert und gerade vorhin die passende Farbe im Fachgeschäft bestellt.
Dabei hatte ich mir noch vor Kurzem vorgenommen, das mit dem FOKUSSIEREN endlich hinzubekommen. Aber ganz ehrlich: Ich liebe meine Art, das Leben chaotisch zu leben. Es gibt Zeiten und Tätigkeiten, wo der Fokus wichtig ist (für mich ist das vor allem die Arbeit), und dann gibt es Zeiten und Tätigkeiten, wo ich es fliessen lassen will.
Gestern war ich sehr lange zu Fuss unterwegs. Unter anderem im Wald. Ich wanderte vor mich hin, liess die Gedanken schweifen. In mir war die totale Ruhe und Gelassenheit und ich war zutiefst glücklich. Ich bin bei und mir dir im Gedanken, dass es nicht so weitergehen kann. Immer höher, immer schneller, immer mehr, Wachstum über alles blablabla. Am Anfang der Krise hatte ich die Hoffnung, dass sie uns als Gesellschaft verändern würde. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Bei uns tagt seit gestern das Parlament, und alles deutet darauf hin, dass sich gar nichts ändern wird. Nicht im grossen. Aber das soll mich und uns nicht davon abhalten, die Dinge im kleinen zu verändern. Wenn das genug Menschen tun, ändert sich vielleicht ja doch noch was.
Ganz viele Menschen suchen die Antworten im Moment in Zahlen und Daten: Wann dürfen wir das wieder? Und wann das? Und wann das andere? Und fangen an zu motzen, wenn die Antwort nicht klar ist. Aber wie soll sie denn klar sein in diesen Zeiten, wo nichts sicher ist? Warum können wir nicht einfach damit leben, dass es keine Antworten gibt. Dass sie sich dann ergeben, wenn die Zeit da ist? Ein Grund ist sicher die Sorge um das Abgesichertsein. Zu wissen, wann man wieder arbeiten kann, damit man planen oder zumindest hoffen kann. Das verstehe ich. Und dennoch mussten und müssen wir lernen, auf Antworten zu warten.
Wir arbeiten beide in einem Beruf, in dem das besonders schwierig ist. Uns fallen Lesungen und Workshops aus, die Zahl der Buchverkäufe ist aufgrund der geschlossenen Buchhandlungen gefallen. Zum Glück wurde bei uns in der Schweiz früh klar gemacht, dass die Kulturschaffenden nicht leer ausgehen sollen. Die Rede war von einer Honorarausfallentschädigung, im Augenblick erhalte ich jedoch eine Erwerbsausfallentschädigung, obwohl ich mein ausgefallenes Honorar gemeldet hatte. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe, und im Augenblick ist nicht ganz klar, wie das weitergehen soll, aber ich habe Geld überwiesen bekommen, etwas, woran ich nicht wirklich geglaubt habe. Es macht im Augenblick noch lange nicht alle ausgefallenen Einnahmen wett, aber es ist ein guter Anfang. Ich wünschte mir, es wäre in Deutschland ähnlich. Anerkennung ist wichtig. In Form von Wahrgenommen werden, von Geschätztwerden, aber halt auch in finanzieller Form (weil wir die Miete nur vom Geschätztwerden nicht bezahlen können).
Womit ich bei den AutorInnen und ihren Aktivitäten im Netz angekommen bin. Auch ich habe anfangs etwas befremdet eine Hyperaktivität festgestellt. Aber ich habe sie verstanden. Wenn dir plötzlich so ziemlich alles wegbricht, suchst du nach Wegen, beachtet zu werden, nicht vergessen zu gehen, IRGENDWAS zu tun. Vieles hatte etwas Verzweifeltes. Mittlerweile denke ich: Jeder so, wie
es für ihn / sie passt.
Bei uns in der Schweiz wird grad sehr viel online gelesen. Das hängt unter anderem mit dem Vorlesetag zusammen, der dieses Jahr eher privat und in Kleinstgruppen stattfinden wird. Nicht wenige AutorInnen stellen dafür Kurzlesungen ins Netz. Ich stelle Kurzlesungen ins Netz, weil ich weiss, dass sich viele Schulen auf meine Lesungen vorbereitet haben; so bekommen sie wenigstens eine kleine "Entschädigung" dafür, besonders jene Klassen, die ein Buch von mir als Klassenlektüre gelesen haben.
Nicht zuletzt macht das auch Spass. Ich werde diesen oder nächsten Monat voraussichtlich meine erste Skype-Lesung machen. Das war nicht meine Idee, sondern der Wunsch einer Schule. Und für eine andere Schule, die sich intensiv mit meinen Büchern auseinandergesetzt hat, werde ich Fragen virtuell beantworten und den Clip dann auch online stellen.
Natürlich ersetzt beides keine Lesung. Nie und nimmer. Weil Lesungen interaktiv sind, weil wir direkt auf unsere ZuhörerInnen reagieren und eingehen können. Weil wir sie miteinbeziehen können. Das ist von unschätzbarem Wert und kann nur in der direkten Begegnung geschehen.
Ich könnte noch endlos lang weiterschreiben, aber ich mache hier jetzt mal einen Punk und fasse die Zeit bis jetzt für mich so zusammen: Ich bin unfassbar glücklich und zufrieden (das mag irr klingen, ist aber so), ich bekomme grad unendlich viel von all dem, was wichtig ist und das man NICHT kaufen kann, allem voran Liebe. Wie dich macht mich das sehr dankbar.