Dienstag, 31. März 2020

E-Mail für dich - Das Leben, wie es jetzt ist

Liebe Jutta

Das letzte Mal getroffen haben wir uns auf der Zürcher Lesetour - wir waren in der letzten Woche vor dem Schliessen unserer Schulen unterwegs, du hauptsächlich mit deinen Schreibworkshops, ich mit meinen Lesungen. Eine davon hast du besucht, und ich war mehr als nur froh darum, denn ohne dich hätte ich mich an jenem Tag sehr einsam und niedergeschlagen gefühlt.

Es waren seltsame Tage: Wir hatten uns beide in den vergangenen Monaten intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie es beruflich weitergehen sollte. Beide hatten wir schon mal aussortiert, was wir nicht mehr wollten, was wir ändern wollten und worauf wir bauen wollten. Wir waren voller Ideen und Pläne und du von einer Zuversicht, die ich so lange so schmerzlich in dir vermisst hatte. Aber bereits damals hing das Virus in der Luft, dämpfte Hoffnungen, warf bange Fragen auf. Wir haben uns im Wissen getrennt, dass beim nächsten Treffen vieles anders sein würde.

Das war vorher.
Jetzt ist nachher.
Mittendrin.
Noch lange nicht vorbei.

Ich möchte dir erzählen, wie es mir geht. Und ich möchte dich fragen, wie es dir geht und was du machst.

Was in diesen Zeiten das Schlimmste für mich ist: das Getrennstein von meinen Lieben. Mir fehlen die Umarmungen, die direkten Gespräche, die Wärme, die da ist, wenn ich mit ihnen zusammen bin. Mit meinen Kindern kann ich das ein bisschen wettmachen, indem wir viel kurze Nachrichten per Handy hin- und herschicken und wir telefonieren seit zwei Wochen mit Kamera. Mein Herz quillt beinahe über, wenn ich Herrn Sohn und Frau Tochter mit ihren LebenspartnerInnen sehe. Anders ist das bei meiner Mutter. Sie hat weder einen Computer noch ein Handy. Kürzlich haben wir so eine Art Romeo und Julia Balkongespräch geführt. Mehr geht im Augenblick nicht. Sie ist stark risikogefährdet und seit einem halben Jahr Witwe, es ist also alles andere als einfach für sie. Aber sie macht das gut, extrem gut. Sie gibt ihrem Tag Struktur und Inhalt, sie sucht und findet das Positive - und das andere, so meint sie, das müssten wir alle aushalten. Das Telefon ist ihr Draht zur Welt. Ab und zu Besuche mit viel Distanz: sie weit drin in der Wohnung, ihr Besuch draussen, so weit wie möglich weg von der Tür.

Was mich in diesen Zeiten umtreibt: dass ich mich - immer noch, verflixt nochmal - von Geschehnissen aus der Bahn werfen lasse, die mir längst am Hutrand vorbeigehen sollten. Zum Beispiel Sonntagseditorials in Bücherbeilagen, die nicht mehr sind als leere Lippenbekenntnisse. Wieso geht mir das überhaupt so nah? Ich weiss doch, wie es ist. Aber vielleicht haben solche kurzzeitigen Rückfälle auch ihr Gutes. Sie klären, was man sowieso schon weiss und lösen gleichzeitig weitere Denkprozesse aus. Manche Entscheide, die ich im Laufe der letzten Monate getroffen habe, werden bestätigt, andere formen sich neu und noch radikaler in meinem Kopf denn je zuvor. Ich denke in bisher ungegangene Richtungen, gehe noch tiefer in die Tiefe. Im Augenblick ziemlich wild und chaotisch, mit Hüpfern und Sprüngen, heute dies, morgen das, übermorgen ganz anders. Und wenn sich das Drehen dann anfühlt wie in einem Wäschetumbler, halte ich den Tumbler an und führe mir vor Augen, in welchen Zeiten wir leben.

Was mir in diesen Tagen Kraft und Mut gibt: Die Liebe. Zu meinem Mann, zur Familie, zu lieben Menschen. Die Wärme, die diese Liebe gibt. Und die Natur. Ich habe nie an einen Gott geglaubt, aber immer an die Liebe und daran, dass da etwas ist, was viel grösser ist als wir - für mich ist das die Natur.

Was mich in diesen Tagen freut: meine Arbeit als Verlegerin. Ich stecke in den letzten Lektoratsarbeiten von vier völlig verschiedenen Texten, jeder einzigartig in seiner Erzählsprache. Ich darf einmal mehr mit vier wunderbaren AutorInnen zusammenarbeiten, darf sie begleiten, mit ihnen in Texte eintauchen, mit ihnen über ihre Geschichten reden. Und da ist dieses wahnsinnig tolle Verlagsteam, unsere Buchband. Stark, kreativ, ruhig, besonnen, mit guten Ideen und Vorhaben.

Was mich in diesen Tagen ängstigt: dass das Virus immer näher kommt. Bei Menschen, die mir viel bedeuten. Dass es stimmt, was ich kürzlich auf Twitter gelesen habe, nämlich dass wir bald alle Menschen kennen, die Menschen verloren haben - und dass die Wahrscheinlichkeit grösser wird, dass wir uns nahestehende Menschen verlieren. Aber ich will mich von dieser Angst nicht unterkriegen lassen. Ich möchte zuversichtlich und optimistisch bleiben, ohne den Draht zur Realität zu verlieren.

Was mir in diesen Tagen oft einfällt: meine ehemalige Geschäftspartnerin. Sie ist Engländerin und einer ihrer Liebelingssprüche war: "We'll cross that bridge when we get to it."

Welche Wege gehst du, Jutta? Vor welchen Brücken stehst du? Was gibt dir Hoffnung, was macht dir Angst. Wie geht es dir?

Herzlich
Alice

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