Liebe
Lisa
Vielen
Dank für deinen Brief und deine Fragen.
Blackout
ist keine wahre Geschichte. Aber ich habe sie so erfunden, dass man sich
vorstellen könnte, sie sei so oder ähnlich wirklich passiert. Prügeleien gibt
es auch im richtigen Leben, Jugendliche fliegen auch im richtigen Leben von der
Schule. Haben Stress mit den Eltern. Bauen Mist. Greifen zu Drogen. Geraten mit
dem Gesetz in Konflikt. Zum Glück gibt es immer wieder Menschen, die einem zur
Seite stehen. Caduff ist so einer. Er hilft Nick nicht wegen seiner Mutter. Er
hilft Nick, weil er möchte, dass Nick es packt. Dass er das Leben, das ihm
entglitten ist, wieder in den Griff bekommt.
Nachnamen
nehme ich – genau wie der Schriftsteller, der eure Schule besucht hat –
manchmal aus dem Telefonbuch. Manchmal suche ich auch Namen im Internet.
Meistens jedoch borge ich sie mir von Jugendlichen, die ich bei meinen Lesungen
kennengelernt habe. Ich habe immer ein Notizbuch dabei. In dieses kann man nach
der Lesung seinen Namen schreiben und wenn ich dann Namen für meine
jugendlichen Hauptfiguren brauche, schaue ich zuerst in den Notizbüchern nach.
Es
gibt Schriftsteller, die über sich schreiben. Entweder eins zu eins oder in
einer abgeänderten Form. Ich mache das nicht. Erstens ist mir das zu privat und
zweitens ist für mich der schönste Teil des Schreibens das Erfinden von
Figuren. Natürlich fliesst manchmal etwas aus dem richtigen Leben in die
Bücher. Das können Gefühle sein, Gedanken, die ich mir mache, Erlebnisse, die
mich aufgewühlt haben, Musik, die ich mag.
Blackout
ist mein erstes Buch. Ich habe vier Jahre daran geschrieben. Nick, Caduff,
Carla, Kristen, Finn und all die anderen sind immer noch Teil meiner Familie –
halt nicht in echt, aber in meinen Gedanken und in meinem Kopf. Den meisten
dieser Figuren stehe ich noch heute nahe. Wählen ist beinahe unmöglich. Müsste
ich, würde ich mich für Nick, Caduff, Carla und Kristen entscheiden.
Ich
wollte nie Autorin werden, zumindest nicht als Beruf. Ich wollte einfach
schreiben. Und genau das habe ich getan. Damit ist auch die Frage nach den
Aufsätzen beantwortet. Ja, ich habe gerne Aufsätze geschrieben – ausser wenn
das Thema grottenlangweilig war. Erst nach meinen ersten paar Büchern habe ich
mir das dann genau überlegt und mich entschieden, hauptberuflich Autorin zu
werden.
Wieso
ich mich für Obdachlose interessiere? Ich mag Aussenseiter. Ich mag Menschen, die etwas sperrig sind, nicht ganz der Norm entsprechen, nicht so recht in diese
Welt zu passen scheinen und die dennoch dazu gehören. Ich habe früh gemerkt,
dass die meisten Menschen an solchen Aussenseitern vorbeischauen, sie behandeln
wie Luft. Oder sie pöbeln sie an, sprechen schlecht über sie, ohne zu wissen,
was diese Menschen fühlen und denken und warum sie so leben, wie sie
leben. Von meinen Eltern habe ich einen
grossen Gerechtigkeitssinn geerbt. Ich habe von ihnen gelernt, nicht auf das
Äussere zu schauen und anderen Menschen mit Anstand und Respekt zu begegnen. Jeder
Mensch hat eine Geschichte. Jeder Mensch hat seine Würde. Ein Leben, in dem man
von anderen wie Luft oder Dreck behandelt wird, muss die Hölle sein.
Was
für Obdachlose gilt, gilt auch für Flüchtlinge. Das sind Menschen mit Gefühlen,
Ängsten, Träumen, Hoffnungen. Wir – du, ich, die Menschen in der Schweiz –
haben sehr grosses Glück, in einem sicheren Land geboren zu sein. Wir dürfen
und können andere, die dieses Glück nicht hatten, nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen. Wie müssen Lösungen suchen.
Ja,
ich möchte mit meinen Büchern den Menschen etwas bewusst machen. Was das ist,
fühlt oder erkennt man, wenn man meine Bücher liest. Es sind grosse Dinge und
vor allem auch kleine, denn viele kleine Dinge können auch Grosses bewirken.
Herzlich
Alice
Gabathuler
PS: Der nächste Montagsbrief erscheint voraussichtlich in zwei Wochen.
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