(Anmerkung: Damit bin ich nicht alleine. Wo immer ich auf meinen Lesetouren hinkomme und sie erwähne, beginnen Augen zu leuchten, stapeln sich die Superlative, entwickelt sich ein Gespräch über ihre Figuren und ihre Geschichten).
Geballte Wut ist ein mutiges Buch. Eines, vor dem Verlage schon mal zurückschrecken. Zum Glück ist Petra Ivanov beim Appenzeller Verlag sehr gut aufgehoben, einem Schweizer Verlag, bei dem individuell und mutig keine leeren Schlagwörter sind, sondern wörtlich zu nehmende Adjektive, die zu einem guten, speziellen und - wie ich jetzt einmal behaupte - einzigartigen Buchprogramm führen.
Geballte Wut ist ein mutiges Buch, weil es die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der ein verabscheuungswürdiges Verbrechen begangen hat, dessen Opfer zwar überlebten, aber ein Leben lang gezeichnet sein werden. Sebastian, der jugendliche Täter, kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, hat materiell alles. Und dennoch wird er zu einem Täter, den wir - wäre Petra Ivanov nicht in ihn hineingeschlüpft wie in eine zweite Haut - nicht verstehen würden. Es ist auch so schwierig genug, ihn zu verstehen (es gelingt nicht immer), aber durch Petra Ivanov gewinnen wir Einblicke in sein Inneres, die Sebastian gegen aussen nicht zulässt. Beklemmend, wie er am Ende des Prozesses nach der Frage, ob er noch etwas zu sagen hat, in einen unendlichen Gedankengang eintaucht, den wir nachlesen können, am Ende jedoch nichts sagt.
Schon in früheren Büchern hat Petra Ivanov zu Bildern gegriffen, wenn sie ihre Jugendlichen etwas ausdrücken lassen möchte, für das sie keine Worte finden. Diesmal nimmt sie Billard zum Symbol, eröffnet damit die Geschichte und lässt sie auch damit enden. Dazwischen verlässt sie nie, nicht für einen Moment, die Perspektive. Sie bleibt in der Haut des Jugendlichen. In einer Erzählsprache, die keinen Moment unstimmig oder falsch klingt. Sie beschönigt nichts, sie erklärt nichts, sie analysiert nicht (die Analysen bekommen wir nur durch Sebastian vermittelt, wenn er über seine Therapiesitzungen berichtet). Nur die einzelnen Kapitel beginnen mit Gesetzesparagraphen und Regeln, fast so, als könne man mit dieser kühlen, amtlichen Sprache den Schrecken dämmen, das Unfassbare fassen, Sinn in das Unsinnige bringen.
Geballte Wut ist nicht nur ein mutiges Buch, es ist auch ein sehr gutes Buch. Eines, bei dem alles stimmt. Eines, das nicht so schnell wieder loslässt. (Würde ich hier Sterne vergeben, wären es fünf von fünf).
«Die drei Richter starren mich schweigend an, genauso die Zuschauer und
die Journalisten. Sie haben genug über meine Person gehört. Sie wissen,
wer ich bin: Sebastian Bischof. 20 Jahre alt. Schreinerlehrling. Immer
noch Jungfrau (das wissen sie hoffentlich nicht). Seit knapp zwei Jahren
in einem Massnahmenzentrum untergebracht. Davor im Knast. Auf der
Beobachtungsstation. Auf Abwegen. Jetzt wollen sie hören, was ich getan
habe.»
Sebastians Leben ist eine einzige Abwärtsspirale. Seine Eltern
sind von seinen schulischen Leistungen enttäuscht, Freunde hat er kaum.
Eine Lehrstelle findet er nur dank der Beziehungen seines Vaters, eines
Zahnarztes an der Zürcher Goldküste. Einzig im Billardspielen ist Seb
wirklich gut. Als er dabei Isabella kennenlernt, scheint sein Leben eine
Wende zu nehmen. Doch es kommt anders als erwartet. Statt auf sicheren
Boden führt ihn diese Beziehung aufs Glatteis. Unfähig, sich
aufzufangen, schlittert Seb geradewegs in eine Katastrophe.
PS: Petra Ivanov liest an der Buchmesse Leipzig. Die Termine findet ihr hier. Mein Tip: Hingehen und zuhören!
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