Sonntag, 19. Oktober 2025

Auf Lesetour im Kanton Uri

 
(Hochmoor Rothenthurm)

Heute Morgen habe ich meine Sachen zusammengepackt, am Nachmittag bin ich nach Altdorf im Kanton Uri aufgebrochen. Unterwegs reichte die Zeit für einen Spaziergang im Hochmoor bei Rothenthurm. Ein Traum in Herbstfarben! 

Im Gegensatz zu früheren Touren habe ich mich in einer Ferienwohnung eingemietet, die gemütlicher nicht sein könnte. Kein Hotelzimmer, in dem mir die Decke auf den Kopf fällt, kein Arbeiten an einem Tisch irgendwo an einer seelenlosen Wand oder auf dem Bett (weil mir der Tisch an der Wand nicht behagt). Die Wohnung hat eine riesige Wohnküche mit drei Fenstern und einem grossen Tisch, an dem ich arbeiten kann. Wenn ich mich erholen will, wechsle ich auf das Sofa in der gemütlichen Wohnstube. Egal, aus welchem Fenster in der Wohnung ich schaue, überall sind Berge. So schön. Und unter uns gesagt, einer der Hauptgründe, warum ich für diese Lesetour zugesagt habe.

Altdorf wird die nächsten zwei Wochen zur Heimbasis, die Lesungsorte sind alle in der Nähe, also auch keine endlosen Bahn- und Busfahrten. Der Lesungsplan ist propevoll. 28 Lesungen in zwei Wochen, jeweils drei Lesungen am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag (zwei am Vormittag, eine am Nachmittag), am Mittwoch jeweils zwei. Obwohl ich ein wenig Bammel vor so vielen Lesungen habe, freue ich mich sehr darauf. Im Blogpost nächste Woche werde ich berichten, was ich so alles erlebt habe.

Erst einmal lebe ich mich hier ein und schraube mich dann morgen nach Andermatt hoch.  

Sonntag, 12. Oktober 2025

Mittelstreifenblues für Schulen

Manchmal tut es noch weh, dieses leise Untergehen eines Buches, das mir so viel bedeutet. Dann denke ich an die tollen Rezensionen, den wunderbaren Preis, die herzerwärmenden Rückmeldungen und sage mir, dass all das die ganze Arbeit und das Herzblut wert gewesen sind. "Ist halt so", sage ich mir. "Gehört zum Beruf", sage ich mir. "Abhaken, weitermachen, neue Bücher schreiben."

Und dann gibt es diese Momente in denen mein Kampfgeist erwacht. "Verdammt", sagt der zu mir, "wenn dir das Buch so viel bedeutet, MACH WAS." Meistens poste ich dann was in den Social Media, etwas, das wenn immer möglich mit etwas Witz oder zumindest guten Bildern daherkommt. Der Erfolg solcher Aktionen ist allerdings mehr als überschaubar.

Vor ein paar Monaten hat sich eine Lehrerin bei mir gemeldet. Sie überlegte sich, Mittelstreifenblues zur Klassenlektüre zu machen und mich zu einer Lesung einzuladen. Weil ich weiss, wie wichtig für Lehrpersonen Unterrichtsmaterial zu einem Buch ist, verwies ich auf das Material, das es bereits gibt. Am Ende scheiterte das Ganze an zwei Faktoren: Die Lehrerin fand das Unterrichtsmaterial unbrauchbar (womit sie leider nicht unrecht hat), und das Buch war ihr zu teuer. 

Ich bin überzeugt, dass Mittelstreifenblues ab der neunten Klasse eine tolle Klassenlektüre ist; ich weiss, dass Schulen, die Klassensätze bestellen wollen, beim Verlag auf sehr offene Ohren stossen. Und Unterrichtsmaterial kann ich - für den da bux Verlag gestalte ich jedes Jahr mindestens zu zwei Büchern Arbeitsblätter.

"Siehst du", rief mein Kampfgeist, "selbst ist die Frau. ALSO MACH SCHON." 
"Ist ja gut, antwortete ich, "ich hab's gehört. Und ich mach's." 
Diese Woche habe ich mit der Planung begonnen. Ich orientiere mich dabei am da bux Unterrichtsmaterial, dem Material, dass der Verlag an der Ruhr damals zu meinem Buch dead.end.com gemacht hat, und an Material zu Jugendbüchern, das ich online gefunden habe. 

An dieser Stelle folgt mein mittlerweile bekanntes Versprechen: Ich werde berichten. 

Sonntag, 5. Oktober 2025

Aus der Zeit gefallen


Kürzlich habe ich jemandem erklärt, warum ich mein Buch Das Projekt nicht im Self Publishing neu aufgelegt habe, obwohl ich das Buch und vor allem die Figuren immer noch sehr liebe. Es liegt also weder an den Gefühlen noch den Lebensumständen meiner Figuren. Der Grund ist ein anderer: Ich denke, das Buch ist aus der Zeit gefallen, das Leben und das Umfeld der heutigen Jugendlichen haben sich zu sehr verändert, zu vieles könnte ihnen zu fremd sein.

Einen Tag nach diesem Gespräch hat Herr Zufall zugeschlagen. In meiner Inbox lag eine Mail einer Lehrperson, die genau dieses Buch als Klassenlektüre lesen möchte, nicht zuletzt, weil sie es als Jugendliche als Klassenlektüre gelesen und sehr gemocht hat. Da das Buch seit Jahren vergriffen ist, fragte sie mich nach meinem Notvorrat an Büchern und tatsächlich hatte ich noch genügend Exemplare. Ich erzählte der Lehrperson von meinem Gespräch, davon, dass ich denke, dass das Buch aus der Zeit gefallen ist. Und dass ich mich sehr auf die Lesung freue, bei der ich mit den Jugendlichen darüber diskutieren möchte, wie sie das empfinden. Wo sie denken, ihre Lebensrealität sei eine ganz andere, und wo sie sich wiedererkennen. Was ihnen weit weg scheint und was ganz nah. 

Das war immer das, was mich an diesem Buch fasziniert hat: Zu keinem anderen Buch gab es die spannenderen Diskussionen als zu diesem. Eine Klasse meinte, der Spannungsbogen sei so was von falsch (womit die Klasse völlig richtig lag). Eine andere fand die Figuren zu klischeehaft, was zu einem längeren Gespräch führte, weil die Antwort nicht ganz eindeutig ist. Auf den ersten Blick ein Ja, auf den zweiten auch ein Nein, was zu einem generellen Gespräch über Figuren in Jugendbüchern führte. Spannend auch, wie sich die Wahrnehmung der Namen im Laufe der Zeit änderte.  

Eine Anmerkung für Lehrpersonen, die hier mitlesen: Mein Buch Mittelstreifenblues ist die perfekte Alternative zu Das Projekt. Ein Buch über Freundschaft, Liebe, Loyalität und sich selber sein, selbst wenn das es schier unmöglich scheint. Auch ein Buch über Landflucht und einen fairen Tourismus. Ein Buch, das in den Bergen spielt, dem Sehnsuchtsort vieler Städter. Und weil die grossen Gefühle universell sind, können es Leute aus der Stadt und der Agglomeration genauso gut lesen wie die Menschen in den Bergen.

Die Schachtel mit meinen (fast) letzten Exemplaren ist unterwegs zu der Schulklasse, die ich im November treffe. Ich bin sehr gespannt auf die Lesung. Und natürlich gilt wie immer: Ich werde berichten.

 

Sonntag, 28. September 2025

Starke Texte - starke Frauen


Es war Mitte September, aus einem strahlend blauen Himmel brannte die Sonne auf den Hotelgarten in Sils. Heiss war es, viel zu heiss für die Jahreszeit. Und das kurz vor halb fünf, in diesem Schweizer Hochtal, von dem die Autorin Romana Ganzoni einmal gesagt hat: "Der Sommer im Engadin findet an einem Augusttag statt - ausser es schneit an diesem Tag." Auf dem Rasen stand ein hoher Tisch, links und rechts ein Barstuhl. Auf der Terrasse versammelten sich die Menschen, setzten sich, suchten Zuflucht unter Sonnenschirmen. 

Herr Ehemann und ich waren am Morgen im T-Shirt auf knapp 3'000 Metern unterwegs gewesen, waren auf der Fuorcla Surlej in der Aussicht auf die Bergewelt beinahe ertrunken, dann über Hochebenen, Steinhalden und an Seen vorbei zurück ins Tal gewandert, eine gelb-grau-braun-grün-rote Pracht von vollendeter Schönheit, wild und sanft zugleich. Die Höhenmeter steckten in den Beinen, zusammen mit den Höhenmetern vom Vortag. 

Jetzt sassen wir da, in einer Bergkulisse, schon fast kitschig schön, und warteten. Der Grund: zeit:fluss, ein neues Kulturfest im Engadin, "Die Bergführerin" der Titel der Lesung, in der Romana Ganzoni und Franziska von Fischer uns durch verschiedene Texte führen würden. Ich schaute mir die Barhocker an und dachte: Auch das ist eine Art Bergbesteigung, eine, an der ich kurzbeinige kleine Frau ziemlich grandios scheitern würde. Aber die beiden Frauen schwangen sich elegant auf ihre Stühle, schauten einander noch einmal an, dann begann Romana Ganzoni zu lesen, aus einem Text, den sie eigens für diesen Anlass geschrieben hatte.

Ihr Text floss durch die Zeit, ein mäandernder Fluss, der sich seinen Weg von Celerina bis nach Italien bahnte, wild und rau und gleichzeitig poetisch schön. Wir fuhren mit ihr die Strasse nach Pontresina entlang, dann aufwährts in Richtung Hospiz, die Kurven sauber ausfahrend, den Blick auf das Blau des Himmels, dieses trügerische Blau, unter dem in den Achtzigerjahren junge Menschen aus dem Engadin den Drogentod starben, elend und allein. Ich sah den kleinen Jungen auf der Schaukel, der sich in Richtung Himmel schwang und nie alt werden würde, ich weinte um diesen Menschen, den ich nie gekannt hatte. Dachte an "Die Torte", das Buch, das Romana für unseren da bux Verlag geschrieben hat, in dem junge Menschen mit den heutigen Todesdrogen experimentieren. Im Buch endet das Leben einer Jugendlichen an einer Bushaltestelle - und man merkte beim Vorlesen, wie sehr Romana die Geschehnisse immer noch unter die Haut gehen. Ich hing den Schicksalen nach und war Romana dankbar, dass sie die Engadiner Berge nicht einfach zu einer schönen Kulisse für schöne, perfekte Leben machte.

Franziska von Fischer las aus kurz dem Buch von Nicole Niquille, der ersten Bergführerin der Schweiz, danach aus einem Dokument von Henriette d'Angeville, die nicht ganz als erste Frau auf dem Mont Blanc stand, aber als erste, die die ganze Besteigung auf eigenen Füssen gemeistert hatte. Kein Hochziehen, kein Tragen, ein Gipfelaufstieg unter unmenschlichen Schmerzen. Vorbereitet war sie gewesen. Hatte trainiert, schaffte die ersten 90 Prozent so gut, dass sie dachte, es sei fast ein wenig zu leicht, und ging in den letzten 10 Prozent durch die Hölle. Ein paar Schritte, dann bleiernde Müdikeit, Kraftlosigkeit, ein kurzer Schlaf, von einer bis zwei Minuten, wieder ein paar Schritte, bleierne Müdigkeit, ein kurzer Schlaf, die nächsten paar Schritte, bleierne Müdigkeit, ein kurzer Schlaf ... der Schmerz war aus jedem Wort herauszuhören. Man wollte rufen "Gib auf, dreh um, das ist es nicht wert", doch Aufgeben war für Henriette keine Option. 

Ich erinnerte mich, wie ich mich am Vortag einen Steilhang hinaufgequält hatte, mit schmerzenden Oberschenkeln, ein Knorz und ein Krampf und ich schämte mich beinahe ein wenig angesichts der Qualen, durch die Henriette gegangen war. Kurz vor dem Gipfel bot man ihr an, sie die letzte Strecke zu tragen - sie weigerte sich. Stapfte weiter, erreicht den Gipfel, um 13.25 Uhr am 3. September 1838, hieb ihren Wanderstab ins Eis und schrieb ihr Motto in den Schnee: "Vouloir c'est pouvoir" (Wollen ist können). Dass sie auf dem Gipfel eine Stunde lang Briefe schrieb und eine Brieftaube fliegen liess, das passt zu dieser Frau, die genau wusste, was sie wollte.

Romanas Textluss mäanderte weiter, auf den zugefrorenen See. Türkisfarben. Und der Wind kam auf, trug uns nach Italien, zu den Farben, dort, wo Gelb eine schöne Farbe ist, mit dem Lift nach oben, über die Stadt. Ich stand auf dem See, unter mir das Eis, vor mir die italienische Stadt, ich lauschte den Worten, und es gab nichts Schöneres gab als diesen Text. Wortmusik in Deutsch, Französisch, Italienisch und Rumantsch. Im Fluss. Mäandernd. Berührend. 

Auch die erste Bergführerin der Schweiz wusste, was sie wollte. Dass es schwierig werden würde in einem Land, das das Frauenstimmrecht erst 1971 eingeführt hat, in einem Ausbildungskurs, in dem sie die einzige Frau war, das war ihr bewusst. 1986 nahm sie als erste Bergführerin der Schweiz ihr Diplom in Empfang. In "Und plötzlich am Himmel ein Berg" erzählt sie, wie das war. Franziska von Fischer las Episoden aus Nicoles Weg zur Bergführerin.  

Romana übernahm, mänderte zurück nach Sils, zu Annemarie Schwarzenbach, einer anderen Schweizerin, die ihr Leben sehr selbstbestimmt gelebt hatte. Weit gereist, viel erlebt, gestorben in Sils nach einem Fahrradunfall. Leben und Tod. So nahe beieinander. In diesem Tal, das für viele das schönste Tal der Schweiz, vielleicht sogar der Welt ist, aber, so fand Romana Ganzoni, ist das nicht auch anmassend, wo es doch so viele Bergtäler gibt auf dieser Erde. Und dann dieser blaue, trügerische Himmel. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, immer noch. Ich war eins im Fluss mit diesen starken Frauen, die ihr Leben auf ihre Weise gelebt hatten. Ich war eins mit diesem wilden, rauen, poetischen, starken Text von Romana Ganzoni. Das also können Worte, dachte ich, das können Sätze. So klingt das Leben und das Sterben, wenn man dem Fluss der Wörter folgt, wenn man sich auf das Mäandern einlässt. Ich wollte nichts mehr, als genau so schreiben. 

Natürlich weiss ich, dass dieser Text von Romana Ganzoni, der mich in den Bann gezogen hat, nicht einfach aus ihr herausgeflossen ist. Dass es ein riesiges Stück Arbeit war, dass sie lange daran geschliffen und gefeilt hat. Das gehört zu unserem Beruf - einen Text so zu schreiben versuchen, dass die Lesenden (oder Zuhörenden) am Ende das Gefühl haben, es sei alles ein einziger Fluss. Nicht alle schaffen das. Romana ist Meisterin darin. 

Danke Romana, danke Franziska.  

Sonntag, 21. September 2025

Wild, rau, karg


Ich stand auf der Fuorcla Surlej, vor mir ein sehr kleiner Bergsee, mehr eine grosse Pfütze, dahinter Berge mit klingenden Namen, sozusagen das Who is Who der Alpen, ein Bild von überwältigender Schönheit. Meine Gefühle zu gross für mein Herz. Ich wollte für immer dort stehen bleiben, für immer einfach nur schauen, und gleichzeitig wusste ich: Ich kann nicht ewig hierbleiben. Irgendwann muss ich loslassen. Weiterwandern. Dann der Moment, in dem ich mich wegdrehe, und während ich das tue, will ich zurückblicken, stehen bleiben, aber ich gehe weiter. Trage das, was ich gesehen habe, in mir mit. Habe es mit der Kamera festgehalten. Für Tage, an denen die Sehnsucht zu gross wird.

Landschaften, die ich liebe, sind wild und rau, oft auch karg. Das Liebliche passt nicht zu mir. Dasselbe gilt für Texte und Geschichten. Ich mag sie wild und rau, oft auch karg. Einfach, kantig und mit Furchen. Das Geschliffene behagt mir nicht, Gekünsteltes langweilt mich. Schnell klingt es für mich zu geschraubt, zu gewollt, zu sehr nach: "Schau mal, was ich kann." Nicht selten habe ich dabei das Gefühl, der Autor oder die Autorin wolle mich vor allem beeindrucken. Solche Texte wecken meinen Fluchtinstinkt, ich steige genervt aus. Ich will nicht beeindruckt werden, ich will, dass mir ein Text unter die Haut ins Herz geht wie der Anblick einer Landschaft von überwältigender Schönheit.

Diese Woche habe ich beides erleben dürfen: Landschaften und Texte von wilder, rauer, karger Schönheit, die unter die Haut und ins Herz gehen. Die Landschaften haben ihren Weg in meine Social Media gefunden. Von den Texten werde ich im Post von nächster Woche berichten.