Donnerstag, 8. August 2024

Wenn Engel zweimal landen


Ich stand am Anfang meines Autorinnenlebens, als im Verlag, für den ich damals schrieb, ein Buch erschien: Landeplatz der Engel von einem Frank Maria Reifenberg. Bei mir schlug ein Blitz ein. Ich verliebte mich von jetzt auf sofort in den Buchtitel und das Cover und kaufte mir das Buch. Auch der Inhalt war Liebe auf den ersten Blick. Restlose Begeisterung für einen grandiosen Einstieg, für eine atemberaubende Erzählsprache, für etwas, das ich in dieser Form noch nicht gelesen hatte, etwas, das unter meine Haut drang und mich mitriss. Als ich die Geschichte zu Ende gelesen hatte, wusste ich: Diesen Autor willst und musst du kennenlernen, du musst wissen, wer solche Sätze schreibt, wer solche Ideen hat, wer eine solche Geschichte erfinden kann.

Der glückliche Zufall wollte es, dass dieser Frank Maria Reifenberg bei der Zürcher Autoren-Schullesetour dabei war. Ich war es damals noch nicht; ich war noch zu neu, zu unbekannt, also schrieb ich ihm eine Mail. Den genauen Inhalt weiss ich nicht mehr, aber wir verabredeten uns in Zürich, das damals für ein Landei wie mich noch ziemlich weit von meiner Ostschweizer Pampa entfernt schien.

Mit dem Autor ging es mir wie mit dem Buch. Ich mochte ihn auf Anhieb. Sehr. Wir sassen da und redeten und redeten und redeten. So begann unsere Freundschaft. Später, als ich auch ein Teil der Lesetouren war, habe ich Frank immer wieder getroffen und mich jedesmal prächtig mit ihm unterhalten. Aber zurück zum Buch.

Ich war damals felsenfest überzeugt, dass Landeplatz der Engel für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert werden würde. Wenn nicht dieses Buch, welches denn sonst? Meine Enttäuschung war riesig, als das nicht passierte. Warum sahen andere nicht, was so offensichtlich war: dass da jemand eine Wahnsinnsgeschichte mit einem ureigenen Klang geschrieben hatte? Mutig. Anders. Sprachgewaltig.  

Das Buch ging den Weg der meisten Bücher. Irgendwann war es vergriffen. Auf meinem Bücherregal hatte es stets einen Ehrenplatz und jedes Mal, wenn ich die Regale etwas umräume, um neuen Platz zu schaffen, halte ich es eine Weile einfach in den Händen. Und dann, vor ein paar Monaten, schrieb mir Frank, dass es eine Neuauflage gibt. Ich habe mich sehr für das Buch und ihn gefreut. 

Gestern bekam ich Post. Ich sah den Absender und ahnte, was im Paket war. Es zu öffnen, stellte sich als eine mittelprächtige Kunst heraus, es war zugeklebt wie ein Tresor in Fort Knox (schiefes Bild, ich weiss, aber ich finde grad kein anderes) und so hatte ich ganz viel Zeit, mich auf den Inhalt zu freuen. Nur, als ich dann sah, was Frank mir geschickt hatte, begriff ich erst gar nichts mehr. Das war nicht der Landeplatz der Engel, das war ein Buch mit zwei Affen und einem ziemlich heftigen Titel. Aber Moment ... der Titel ... der erinnerte mich doch an etwas ...

»Scheiß was drauf. Ich hatte nicht mitbekommen, wer den Satz gesagt hatte. Irgendwer, der den weiten Weg hierher gemacht hatte, weil das Depot zum angesagtesten Club der Stadt erklärt worden war. Irgendwer, der es nicht hinter die graue Stahltür geschafft hatte oder dem die letzte Zigarette in den Dreck gefallen war. Irgendwer, der keine Ahnung davon hatte, dass er kurz vor Mitternacht noch die gute Tat des Tages tun würde, einfach, indem er mir einen Satz schenkte, einen guten Satz. Scheiß was drauf. Das ist ein Von-oben-nach-unten-Satz. Er fängt oben an, Scheiß, und rutscht dann nach unten weg, was drauf. Das was hat keine Bedeutung. Es interessiert keinen, was du draufscheißt. Drauf steht an letzter Stelle. Ist eine Falle. Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben (übrigens kein Von-oben-nach-unten-Satz). Du sollst auch den Satz nicht vor dem Ende eintüten, weil du sonst feststellen könntest, ziemlich oft sogar, dass er etwas ganz anderes ist, als du dachtest, dass er nachtritt, aus dem Hinterhalt schießt.«

So fängt Landeplatz der Engel an. Mit Scheiß was drauf. Ich lachte. Presste das Buch an mich. Strich über das ungewohnte Cover. Begriff: Die Engel sind zum zweiten Mal gelandet, diesmal halt als Affen, und der erste Satz des Buches ist zum Titel geworden. Ich lese es gerade wieder. Und bin so begeistert wie beim ersten Mal. Das spricht für das Buch. Es ist zeitlos, immer noch gültig. Mittlerweile schreiben viele Autor:innen in einer Erzählsprache, wie sie Frank damals zu Papier gebracht resp. in seinen Rechner getippt hat, aber immer noch sticht sie heraus. Nicht zuletzt wegen der Einfälle. Wer sonst käme darauf, dass ein Satz ein Von-oben-nach-unten-Satz ist (was übrigens stimmt, lest ihn mal laut).

Zum Inhalt selbst möchte ich nicht viel schreiben, eigentlich gar nichts. Das Buch ist eine Entdeckungsreise, ein unvorhersehbarer Trip in und durch eine Freundschaft. Eine Reise, die man ohne Vorwissen starten sollte, weil es in diesem Fall stimmt: Die tollste Reise ist die, hinter der man nicht weiss, was nach der nächsten Ecke kommt. Eine, in der man von Satz zu Satz lesen sollte, von Absatz zu Absatz, von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel. Immer weiter, immer schneller. Und doch bremsen muss, weil man das Unterwegs ja geniessen will. Bis hin zum Ende.

»Ruhe in Frieden. Wenn du tot bist, gönnen sie dir Frieden. Das war ein Scheissdreck, ein grosser Mist. Tot braucht niemand Frieden, vorher, da machte es Sinn. Ein beschissener Satz, für nichts zu gebrauchen.«

Scheiß was drauf, Frank Maria Reifenberg, Karibu-Verlag, 2024,
sechs von fünf Sternen und ein Landeplatz fürs Herz
(und Frank, das ist genau so viel Wert wie der DJP - oder zumindest fast ;-))

Donnerstag, 1. August 2024

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With each book you write you have to learn how to write that book - so every time, you have to start all over again.

Dani Shapiro


Von und über Austin Kleon habe ich in diesem Blog schon öfter geschrieben. Kürzlich entdeckte ich in einer Instagram-Fotostrecke einen Buchtipp von ihm: Still writing von Dani Shapiro. Der Titel machte mich neugierig, denn diesem Ich schreibe immer noch hängte mein Kopf sofort ein trotz allem an. Ich fühlte mich mitten ins Herz getroffen, denn ja ich schreibe. Immer noch. Trotz allem. Also googelte ich erst das Buch, las die Leseprobe und googelte dann die Autorin. Im Rahmen dieser Suche bin ich auf das obige Zitat gestossen: "Mit jedem Buch, das du schreibst, musst du lernen, wie du das Buch schreibst - du startest jedes Mal von vorne."

In diesem Zitat habe ich den Grund oder zumindest einen Grund gefunden, warum ich immer noch schreibe. Ich liebe diese Neuanfänge. Je länger ich schreibe, desto mehr suche ich sehr bewusst das Startfeld, das mich in eine neue Richtung führt. So, wie ich mir im Leben neue Trampelpfade suche, suche ich im Schreiben das Neue. Thema, Setting, Erzählform, Erzählperspektive. Alles braucht seine Zeit, manchmal muss ich auch damit experimentieren, bis ich wirklich eine Form oder die Perspektive gefunden habe, die zu den Figuren und der Geschichte passt. Beim Mittelstreifenblues hat es besonders lange gedauert. Dass ich zwei Erzählperspektiven wollte, wusste ich schnell, daran, wie sie klingen sollten, habe ich lange nachgehorcht und alles Mögliche ausprobiert, bis ich bei der Gedichtform für Jelscha landete und wusste: Das ist es.

Aber selbst wenn eigentlich alles vorgegeben ist, wie bei Band fünf der Lost Souls, benötige ich viel Zeit und auch mehrere Versuche und Anläufe, bis es für mich ganz klar ist, welche Perspektiven ich wähle und wie ich die Geschiche erzählen möchte. 

Ich habe längst aufgehört, mir zu überlegen, ob ich mich ins Abseits schreibe, wenn ich immer wieder in neue Schreibgefilde aufbreche. STOPP. Hier muss ich den Rewind-Button drücken und etwas ausholen. Früher war mir nicht bewusst, dass man sich überhaupt ins Abseits schreiben kann. Diese Erkenntnis tauchte erst auf meinem Radar auf, als meine Lost Souls sich nicht so gut verkauften wie erhofft. Auf Nachfrage beim Verlag bekam ich die Antwort: "Die Buchhandlungen wollen einen richtigen Gabathuler." Will heissen, Jugendbücher, wie ich sie bis anhin geschrieben hatte. Ich habe dem Verlag gesagt, er solle den Buchhandlungen ausrichten, die Lost Souls seien richtige Gabathuler, denn immerhin hatte ich die Bücher geschrieben. Nach den Lost Souls folgte ein Kinderbuch. Wieder das "Falsche", weil wieder so anders. Aber da war es mir dann schon egal; da hatte ich nichts mehr zu verlieren. Heute bin ich sozusagen narrenfrei. Ich folge beim Schreiben immer noch und immer wieder meinem Gefühl und meiner Experimentierlust, ohne Scheren im Kopf. Einen Bestseller wird mir das wohl nicht mehr einbringen. Aber immerhin ein zufriedenes, erfülltes Autorinnenleben. Und das ist auch schon ganz schön viel.