Kürzlich brauchte ich eine neue ID und einen neuen Pass. Die nette Dame am Schalter fragte, ob ich die gelochten Dokumente bei ihr lassen oder mitnehmen wolle. Nicht zum ersten Mal in diesen Tagen, aber heftiger als sonst, fiel mir meine Tochter ein.
Als sie 14 oder 15 war, brauchte sie eine neue ID. Ich ging mit ihr zur Gemeinde, die nette Dame dort stellte meiner Tochter genau die Frage, die mir kürzlich gestellt wurde. Die Augen meiner Tochter weiteten sich, sie holte Luft und sagte: "Ich muss sie mitnehmen, ich brauche die. Unbedingt."
Als wir aus dem Gemeindehaus raus waren, fragte ich nach dem Grund (den ich eigentlich hätte kennen müssen). Meine Tochter antwortete: "Ich brauch die für die Personenkontrollen."
Ja, genau Personenkontrollen. Mehrzahl. Und nein, meine Tochter hat nicht im Ausland gearbeitet und dafür jeden Tag Grenzen überschreiten müssen, sie wollte auch nicht in die Ferien. Meine Tochter war Punk. Sprich, sie sah anderes aus als andere. Ganz anders. Das reichte, um pro Woche ungefähr zwei Mal von der Polizei angesprochen und nach einem Ausweis gefragt zu werden, in den allermeisten Fällen hier in unserer Kleinstadt, wo sowieso jeder Polizist wusste, wer sie war. Es war die reine Schikane. Ein Zeichensetzen. DU BIST VERDÄCHTIG, WEIL DU ANDERS AUSSIEHST.
Wir haben zu Hause viel darüber gesprochen. Ich kannte ja auch nette Polizisten, von meinen Recherchen für meine Krimis. Ich sagte immer: "Es sind nicht alle so." Oder: "Die haben aufgrund ihrer Erlebnisse Vorurteile, es ist nichts Persönliches." Und vor allem habe ich meine Tochter und ihren Freund immer gebeten, einfach freundlich zu bleiben. Nicht auszuticken. Obwohl ich innerlich sehr oft vor Wut fast explodiert bin.
Sie hat sich daran gehalten. Meistens. Denn es gab auch Momente, in denen das schwierig wurde. Weil ihr Freund den Zeigefinger in die Brust gebohrt bekam und aufgefordert wurde, sein Handy rauszurücken (auf dem der Polizist dann rumgedrückt hat, einfach so).
Einmal, als ich fand, jetzt seien sämtliche Grenzen überschritten worden, rief ich bei der Polizei an. Meine Tochter und ihr Freund hätten es nämlich nicht getan. Das war, als ein Polizist gegenüber den beiden, vor allem gegenüber dem Freund meiner Tochter sehr übergriffig wurde. Aus dem Blauen heraus. Und als der Freund ihm sagte, das dürfe er nicht, zeigte der Polizist auf seine Uniform und schrie: "Doch, ich darf das."
"Das sind Menschen", sagte ich dem - netten - Polizisten, der meinen Anruf entgegennahm. "Keine Hunde. Wenn ihr sie kontrollieren wollt, dann tut es halt, das sind sie sich gewohnt. Aber tut es freundlich und ohne übergriffig zu werden. Und einfach mal so zur Info: Ich laufe seit Jahren durch diesen Ort, ohne dass ich auch nur einmal meinen Ausweis hätte zeigen müssen." Der Polizist hat zugehört und dann auch noch nach meiner Tochter gefragt, die dann lange mit ihm gesprochen hat. Ich hatte das Gefühl, dass es es ab jenem Telefonat etwas besser wurde.
Trotzdem. Es geht noch weiter. Meine Tochter interessiert sich für das, was in der Welt passiert. Sie ist informiert und sie findet vieles ungerecht. "Ich würde gerne an Demos gehen", sagte sie mir einmal. Da war sie schon älter. Ich hatte keine Ahnung, warum sie im Konjunktiv redete und nicht einfach hinging. Also fragte ich (wie damals, als wir zusammen zur Gemeinde gingen).
"Mam, wenn ich an eine Demo gehe, komme ich keine hundert Meter weit ohne von der Polizei reingenommen zu werden."
Das Traurige ist: Ich konnte ihr nicht widersprechen. Meine Tochter hat zwar das Herz auf dem richtigen Fleck, aber sie trägt die falsche Kleidung und die falsche Frisur. Und doch, ja, sie ist mutig. Sie kann sich wehren. Sie hat keine Angst, für ihre Sache einzustehen. Aber sie wollte nach ihrer Lehre unbedingt die Weiterbildung zur Sozialpädagogin machen - und das geht nicht mit einem Eintrag im Polizeiregister.
Meine Tochter hat nie "Diktatur!" geschrien. Ja, sie fand das alles extrem ungerecht, aber sie hat nie Plakate mit ehrverletzenden Bemerkungen oder Aufforderung zur Gewalt rumgetragen. Sie war zu keiner Zeit eine Gefahr für irgendwen. Sie trug (und trägt) Badges auf ihren Kleidern. Gegen Hass. Gegen Faschismus. Gegen die Ungerechtigkeit der Welt.
Kürzlich trug sie tagelang eine Schutzmontur, samt dieser Art Taucherbrille. Die Haut ihrer Hände ist kaputt vom vielen Desinfizieren. Beides setzt ihr zu. Beides gehört zu ihrem Beruf (Sozialpädagogin).
In diesen Tagen ziehen Menschen durch Städte. Mit Schildern, die zur Gewalt aufrufen, die ehrverletzend sind. In Schutzmontur. Ohne Maske. Wahrscheinlich nicht mit kaputter Haut an den Händen. Aber friedlich, wie sie - stolz - betonen. Denn "seht her, wir umarmen uns sogar!"
Ich habe keine Ahnung was an Aufrufen zur Gewalt und Ehrverletzung friedlich ist. Ich weiss auch nicht, was friedlich daran ist, bewusst das Risiko einzugehen, sich und andere anzustecken. Mit einer Krankheit, die tödlich ist. Und einfach mal so, als Fakt: Es ist zurzeit tatsächlich illegal, sich in Horden zu versammeln und ohne Maske dicht an dicht zu stehen oder sich gar reihenweise zu umarmen.
Aber hey, sie sind doch sooooooo friedlich. Weshalb die Polizei nicht eingreift. Darauf sind diese demonstrierenden, egoistischen, unsolidarischen, selbsternannten Rebellen ungeheuer stolz. Seht her, was wir machen ist richtig und hat keine Konsequenzen.
Oh, doch! Hat es. Es werden mit jeder Demo mehr (was unsere Schutzmassnahmen mehr und mehr ad absurdum führen wird und die Pandemie verlängern könnte). Muss ja niemand damit rechnen, dass eine Teilnahme irgendwelche Folgen hat. Ist ja alles - ja genau - sooooo friedlich. Und durch das Nichteingreifen der Polizei auch legitmiert und legalisiert.
Ich kann gar nicht sagen, wie gross meine Verachtung für diese Vollhonks ist, die denken, sie leben in einer Diktatur und werden versklavt. Und ich hätte da Fragen an die Politik und die Polizei. Sehr viele Fragen.
PS: Nein, ich würde diese Demos nicht verbieten, denn in diesem Land hat jeder und jede das Recht zu demonstrieren. Ich wünsche mir einzig und alleine das Messen mit gleichen Ellen. Gerade in Zeiten einer Pandemie, wo es um das Leben von Menschen geht.