Da fuhren wir also durch die Landschaft. In strömendem Regen. Es war kein Tag für das Haus in den Bergen, aber die Gärtnerei hatte angerufen. Hermann war da, bereit zum eingepflanzt werden. Mein Mann holte ihn am Freitag auf dem Weg nach Hause ab und es stellte sich heraus, dass Hermann für ein frisches Bäumchen eine stattliche Grösse hat. Am Samstagmorgen verluden wir ihn in unser Auto. Er musste ganz hinten einsteigen. Trotzdem kitzelten mich seine Blätter im Gesicht, denn seine längsten Äste reichten fast bis zur Windschutzscheibe.
Während wir durch den Regen fuhren, hörten wir Radio Grischa, das Bündner Lokalradio. Eine Moderatorin unterhielt sich mit einem Autor - mitten am Samstagvormittag, in aller Seelenruhe, ohne Eile, ohne Blick auf "zu lange Redezeit für einen Samstagvormittag". Er sprach über seine beiden Bücher über das Mittelalter, für die er fünf Jahre recherchiert hat, darüber, dass er den Verfolgten und Hingerichteten im Kanton Graubünden aus jener Zeit eine Stimme geben will, von Gerichtsakten, die zeigen, wie viel Kraft diese Menschen an ihrem Lebensende zeigten. Vom Rosenhügel, auf dem man Menschen aufhängte und im Wind hängen liess, als Abschreckung. In einem zweiten Teil stellte er sein neues Buch vor,
Menschendämmerung, über einen Churer Anwalt, der im Jahr 2012 den Weltuntergang (oder den Beginn davon) erlebt und dabei auf sich selbst zurückgeworfen wird. Der Autor sprach von unserer schnelllebigen Zeit, in der viele gar nicht mehr wissen, wer sie sind, die Frage nach Sinn und Sein nicht stellen, weil sie nicht wissen wie, sich nicht trauen oder sie schlicht und einfach verdrängen. Ich hörte diesem Autor zu, den ich vorher nicht gekannt hatte, und wollte unbedingt seine Bücher lesen. Er heisst Philipp Gurt. Mehr über ihn erfahrt ihr
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(Zwischenbemerkung: Zürcher, ihr könnt den Schawinski behalten. Ich will Radio Grischa.)
In den Bergen hingen dicke Wolken. Wir fuhren mitten hinein, dort, wo sie am dichtesten sind, luden Hermann aus und trugen ihn hinunter in den Steilhang, in dem er sein Plätzchen haben wird. Noch vor ein paar Monaten war dieser Steilhang ein undurchdringlicher Dschungel an Brombeersträuchern und Bärenklau, ein wunderschönes aber gefährliches Gewächs. Wir drangen nur langsam vor, mussten uns den Weg freischneiden, kleine Pfade selber anlegen. Die Brombeeren habe ich gerodet, den Bärenklau kamen Männer vom Kanton Graubünden in Schutzkleidung ausgraben (durch den
Bärenklau fliesst eine stark verätzende Flüssigkeit), da er auf der schwarzen Liste der schweizerischen Kommission für die Erhaltung von Wildpflanzen steht. Während rund um den Hang die pralle Vegetation gedeiht, ist er nach der Rodung ein ödes Stück Dreck- und Geröllwüste. Wir wollen ihm nach und nach sein Leben zurückgeben - ohne Bärenklau, der leider nach dem Kauf des Hauses schon zu gross war, um ihm selber zu Leibe zu rücken. Zwei Sträucher haben wir schon vor einer Woche gepflanzt, nun kam Hermann hinzu (Bilder am Ende des Eintrags).
Am Sonntag brach die Sonne durch die Wolken. Wir brachen zu einer Wanderung nach Vals auf - es wurde zu
einer der schönsten des ganzen Jahres. In dieser wuchtigen Natur erledigt sich die Sinnfrage von selbst. Die innere Ruhe kehrt ein, Geschehnisse rücken an ihren Platz. Ich habe nicht geschrieben, dieses Wochenende. Ich werde schreiben, diese Woche und die Wochen, die da kommen. Für mich und meine Leserschaft.
Und dann auf dem Nachhauseweg die Nachrichten: Der Schweizer Luftwaffenchef wünscht sich ein Raketenabwehrsystem. Ich hätte umkehren und in die Berge zurückfahren sollen ...
Hier kommt (steht) Hermann: