Sonntag, 28. September 2025

Starke Texte - starke Frauen


Es war Mitte September, aus einem strahlend blauen Himmel brannte die Sonne auf den Hotelgarten in Sils. Heiss war es, viel zu heiss für die Jahreszeit. Und das kurz vor halb fünf, in diesem Schweizer Hochtal, von dem die Autorin Romana Ganzoni einmal gesagt hat: "Der Sommer im Engadin findet an einem Augusttag statt - ausser es schneit an diesem Tag." Auf dem Rasen stand ein hoher Tisch, links und rechts ein Barstuhl. Auf der Terrasse versammelten sich die Menschen, setzten sich, suchten Zuflucht unter Sonnenschirmen. 

Herr Ehemann und ich waren am Morgen im T-Shirt auf knapp 3'000 Metern unterwegs gewesen, waren auf der Fuorcla Surlej in der Aussicht auf die Bergewelt beinahe ertrunken, dann über Hochebenen, Steinhalden und an Seen vorbei zurück ins Tal gewandert, eine gelb-grau-braun-grün-rote Pracht von vollendeter Schönheit, wild und sanft zugleich. Die Höhenmeter steckten in den Beinen, zusammen mit den Höhenmetern vom Vortag. 

Jetzt sassen wir da, in einer Bergkulisse, schon fast kitschig schön, und warteten. Der Grund: zeit:fluss, ein neues Kulturfest im Engadin, "Die Bergführerin" der Titel der Lesung, in der Romana Ganzoni und Franziska von Fischer uns durch verschiedene Texte führen würden. Ich schaute mir die Barhocker an und dachte: Auch das ist eine Art Bergbesteigung, eine, an der ich kurzbeinige kleine Frau ziemlich grandios scheitern würde. Aber die beiden Frauen schwangen sich elegant auf ihre Stühle, schauten einander noch einmal an, dann begann Romana Ganzoni zu lesen, aus einem Text, den sie eigens für diesen Anlass geschrieben hatte.

Ihr Text floss durch die Zeit, ein mäandernder Fluss, der sich seinen Weg von Celerina bis nach Italien bahnte, wild und rau und gleichzeitig poetisch schön. Wir fuhren mit ihr die Strasse nach Pontresina entlang, dann aufwährts in Richtung Hospiz, die Kurven sauber ausfahrend, den Blick auf das Blau des Himmels, dieses trügerische Blau, unter dem in den Achtzigerjahren junge Menschen aus dem Engadin den Drogentod starben, elend und allein. Ich sah den kleinen Jungen auf der Schaukel, der sich in Richtung Himmel schwang und nie alt werden würde, ich weinte um diesen Menschen, den ich nie gekannt hatte. Dachte an "Die Torte", das Buch, das Romana für unseren da bux Verlag geschrieben hat, in dem junge Menschen mit den heutigen Todesdrogen experimentieren. Im Buch endet das Leben einer Jugendlichen an einer Bushaltestelle - und man merkte beim Vorlesen, wie sehr Romana die Geschehnisse immer noch unter die Haut gehen. Ich hing den Schicksalen nach und war Romana dankbar, dass sie die Engadiner Berge nicht einfach zu einer schönen Kulisse für schöne, perfekte Leben machte.

Franziska von Fischer las aus kurz dem Buch von Nicole Niquille, der ersten Bergführerin der Schweiz, danach aus einem Dokument von Henriette d'Angeville, die nicht ganz als erste Frau auf dem Mont Blanc stand, aber als erste, die die ganze Besteigung auf eigenen Füssen gemeistert hatte. Kein Hochziehen, kein Tragen, ein Gipfelaufstieg unter unmenschlichen Schmerzen. Vorbereitet war sie gewesen. Hatte trainiert, schaffte die ersten 90 Prozent so gut, dass sie dachte, es sei fast ein wenig zu leicht, und ging in den letzten 10 Prozent durch die Hölle. Ein paar Schritte, dann bleiernde Müdikeit, Kraftlosigkeit, ein kurzer Schlaf, von einer bis zwei Minuten, wieder ein paar Schritte, bleierne Müdigkeit, ein kurzer Schlaf, die nächsten paar Schritte, bleierne Müdigkeit, ein kurzer Schlaf ... der Schmerz war aus jedem Wort herauszuhören. Man wollte rufen "Gib auf, dreh um, das ist es nicht wert", doch Aufgeben war für Henriette keine Option. 

Ich erinnerte mich, wie ich mich am Vortag einen Steilhang hinaufgequält hatte, mit schmerzenden Oberschenkeln, ein Knorz und ein Krampf und ich schämte mich beinahe ein wenig angesichts der Qualen, durch die Henriette gegangen war. Kurz vor dem Gipfel bot man ihr an, sie die letzte Strecke zu tragen - sie weigerte sich. Stapfte weiter, erreicht den Gipfel, um 13.25 Uhr am 3. September 1838, hieb ihren Wanderstab ins Eis und schrieb ihr Motto in den Schnee: "Vouloir c'est pouvoir" (Wollen ist können). Dass sie auf dem Gipfel eine Stunde lang Briefe schrieb und eine Brieftaube fliegen liess, das passt zu dieser Frau, die genau wusste, was sie wollte.

Romanas Textluss mäanderte weiter, auf den zugefrorenen See. Türkisfarben. Und der Wind kam auf, trug uns nach Italien, zu den Farben, dort, wo Gelb eine schöne Farbe ist, mit dem Lift nach oben, über die Stadt. Ich stand auf dem See, unter mir das Eis, vor mir die italienische Stadt, ich lauschte den Worten, und es gab nichts Schöneres gab als diesen Text. Wortmusik in Deutsch, Französisch, Italienisch und Rumantsch. Im Fluss. Mäandernd. Berührend. 

Auch die erste Bergführerin der Schweiz wusste, was sie wollte. Dass es schwierig werden würde in einem Land, das das Frauenstimmrecht erst 1971 eingeführt hat, in einem Ausbildungskurs, in dem sie die einzige Frau war, das war ihr bewusst. 1986 nahm sie als erste Bergführerin der Schweiz ihr Diplom in Empfang. In "Und plötzlich am Himmel ein Berg" erzählt sie, wie das war. Franziska von Fischer las Episoden aus Nicoles Weg zur Bergführerin.  

Romana übernahm, mänderte zurück nach Sils, zu Annemarie Schwarzenbach, einer anderen Schweizerin, die ihr Leben sehr selbstbestimmt gelebt hatte. Weit gereist, viel erlebt, gestorben in Sils nach einem Fahrradunfall. Leben und Tod. So nahe beieinander. In diesem Tal, das für viele das schönste Tal der Schweiz, vielleicht sogar der Welt ist, aber, so fand Romana Ganzoni, ist das nicht auch anmassend, wo es doch so viele Bergtäler gibt auf dieser Erde. Und dann dieser blaue, trügerische Himmel. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, immer noch. Ich war eins im Fluss mit diesen starken Frauen, die ihr Leben auf ihre Weise gelebt hatten. Ich war eins mit diesem wilden, rauen, poetischen, starken Text von Romana Ganzoni. Das also können Worte, dachte ich, das können Sätze. So klingt das Leben und das Sterben, wenn man dem Fluss der Wörter folgt, wenn man sich auf das Mäandern einlässt. Ich wollte nichts mehr, als genau so schreiben. 

Natürlich weiss ich, dass dieser Text von Romana Ganzoni, der mich in den Bann gezogen hat, nicht einfach aus ihr herausgeflossen ist. Dass es ein riesiges Stück Arbeit war, dass sie lange daran geschliffen und gefeilt hat. Das gehört zu unserem Beruf - einen Text so zu schreiben versuchen, dass die Lesenden (oder Zuhörenden) am Ende das Gefühl haben, es sei alles ein einziger Fluss. Nicht alle schaffen das. Romana ist Meisterin darin. 

Danke Romana, danke Franziska.  

Sonntag, 21. September 2025

Wild, rau, karg


Ich stand auf der Fuorcla Surlej, vor mir ein sehr kleiner Bergsee, mehr eine grosse Pfütze, dahinter Berge mit klingenden Namen, sozusagen das Who is Who der Alpen, ein Bild von überwältigender Schönheit. Meine Gefühle zu gross für mein Herz. Ich wollte für immer dort stehen bleiben, für immer einfach nur schauen, und gleichzeitig wusste ich: Ich kann nicht ewig hierbleiben. Irgendwann muss ich loslassen. Weiterwandern. Dann der Moment, in dem ich mich wegdrehe, und während ich das tue, will ich zurückblicken, stehen bleiben, aber ich gehe weiter. Trage das, was ich gesehen habe, in mir mit. Habe es mit der Kamera festgehalten. Für Tage, an denen die Sehnsucht zu gross wird.

Landschaften, die ich liebe, sind wild und rau, oft auch karg. Das Liebliche passt nicht zu mir. Dasselbe gilt für Texte und Geschichten. Ich mag sie wild und rau, oft auch karg. Einfach, kantig und mit Furchen. Das Geschliffene behagt mir nicht, Gekünsteltes langweilt mich. Schnell klingt es für mich zu geschraubt, zu gewollt, zu sehr nach: "Schau mal, was ich kann." Nicht selten habe ich dabei das Gefühl, der Autor oder die Autorin wolle mich vor allem beeindrucken. Solche Texte wecken meinen Fluchtinstinkt, ich steige genervt aus. Ich will nicht beeindruckt werden, ich will, dass mir ein Text unter die Haut ins Herz geht wie der Anblick einer Landschaft von überwältigender Schönheit.

Diese Woche habe ich beides erleben dürfen: Landschaften und Texte von wilder, rauer, karger Schönheit, die unter die Haut und ins Herz gehen. Die Landschaften haben ihren Weg in meine Social Media gefunden. Von den Texten werde ich im Post von nächster Woche berichten.  

Freitag, 12. September 2025

Ich kann nicht zeichnen


Als Englischlehrerin habe ich selten etwas an die Wandtafel gezeichnet, weil sowieso niemand herausfand, was es sein könnte. Meine Spezialität waren Katzen (die sind einfach) und Autos (die sind auch beinahe einfach). Wenn ich also past continuous versus past simple erklärte, zeichnete ich eine Strasse und ein Auto.

"I was driving .... and driving ... and driving" (past continuous)

und dann kam die Katze, die vors Auto sprang.

"... and driving, when suddenly a cat jumped right in front of my car." (past simple)

Noch einfacher zusammengefasst und ganz ohne etwas zeichnen zu müssen:

a-diddely-diddely-diddely-diddely / BANG 

Die Konsequenz: Meine jugendlichen Kursteilnehmenden hatten nicht wirklich eine Ahnung, wie man die Zeitformen nannte, aber sie konnten sie perfekt anwenden.

Zurück zum Thema. Ich würde so gerne zeichnen können. Aber ich kann das nicht. Zumindest war das fast ein Leben lang* meine Einstellung dazu. Bis Theres kam. Sie war eine von damals (glaub ich) fünf, die zur ersten Schreibrunde auftauchten. Wir machten Schreibübungen, mit denen ich zeigen wollte, dass das Schreiben in uns allen steckt, dass wir alle schreiben können, vielleicht nicht alle gleich ein Buch, aber schreiben auf jeden Fall. 

Ich fand schnell heraus, dass Theres fantastisch zeichnen kann. Und ich sagte zu ihr: "Ich würde das so gerne können, aber ich kann es nicht." Sie schaute mich an und sagte: "Mir hat jemand gesagt, dass alle Menschen schreiben können. Einfach machen, hat diese Person gesagt. Also: Zeichne einfach. Du kannst das."  Und da wären wir wieder beim BÄNG, einfach in einem anderen Zusammenhang. Ich konnte Theres schlecht widersprechen, denn sie hatte gerade mich zitiert (hüstel).

So ganz glauben wollte und konnte ich es trotzdem nicht. Bis Theres uns an einem unserer Schreibrundentage einen Workshop im Kartenzeichnen gab. Ich sass da, vor mir entstand eine wunderschöne Landkarte, und es waren meine Hand, meine Finger, die das konnten. Was für ein Gefühl! In den letzten Ferien habe ich mich sogar im Nature Journaling versucht und zu meiner Freude festgestellt, dass die Resultate gar nicht so übel aussahen - man erkannte zumindest, woran ich mich versucht hatte.

Seit drei Wochen teilen wir uns zu dritt ein Atelier. Theres zeichnet, Mariann und ich schreiben. Theres wird Zeichenworkshops anbieten - und ratet mal, wer sich zu jedem angemeldet hat. Ja, genau: Ich. Ich kann es kaum erwarten, bis es losgeht. 

Mit dem Zeichnen wird es so sein wie mit dem Schreiben. Alle können zeichnen, nicht alle werden es zur eigenen Ausstellung bringen. Aber darum geht es gar nicht. Ich kann zeichnen. äm Fall, jawoll.

* Mir ist gerade eingefallen, dass ich im Kindergarten leidenschaftlich gerne und auch sehr oft gezeichnet habe ... (Wann wird uns ausgeredet, dass wir es können resp. wann reden wir uns das aus???)

Sonntag, 7. September 2025

Sonntagnachmittag

Sonntagnachmittag. Mein wöchentlicher Blogpost ist überfällig. Mehrere Anläufe zu verschiedenen Themen sind daran gescheitert, dass ich nicht den richtigen Ton getroffen habe. Ich werde ihn finden. Aber nicht mehr heute. Und jetzt? Keinen Beitrag posten diese Woche? Das lässt mein Kopf nicht zu. Nicht schon wieder. Ich wollte doch endlich regelmässig bloggen ....

Ich erinnere mich an meine Anfangszeiten als Bloggerin (2005 oder 2006). Damals war das Bloggen für mich eine lockere Schreibübung, auch eine Auszeit vom Arbeiten an Büchern. Ich habe über das gebloggt, was mich gerade beschäftigt hat. Oft war es gesellschaftskritisch, oft auch medienkritisch, manchmal wütend, manchmal (irr)witzig, immer kämpferisch. Ich mittendrin, habe mich für alles interessiert, mich an der Politik aufgerieben und abgearbeitet. Wenn ich mich heute so stark mit der Weltlage beschäftigen würde wie damals, wäre ich längst ein Wrack. Alte Männer von Trump über Putin bis Netanjahu leben ihre Grössenwahnträume ungebremst und ohne jegliche Menschlichkeit aus. Geld regiert. Die ganze Reichen werden noch reicher. In Amerika wird es bald Trilliardäre geben. Man muss sich das mal vorstellen. Geht eigentlich gar nicht. Die (Geld)Elite von Silicon Valley hockt bei Trump und kriecht ihm in den Allerwertesten. Wer starke Nerven hat, gucke sich dieses Video an. Im Ernst: Was will man da als Angehörige des niedrigen Fussvolks noch sagen? Mir fällt dazu mein Grossvater ein, der mit der Faust auf den Küchentisch gehämmert und über die Gierschlunde geflucht hat. Glaubt mir, der Mann konnte verdammt gut fluchen. Und ich merke, dass mir dieser Blogpost entgleitet. 

Also: Neuanlauf. Sonntagnachmittag. Die unpolitische Version ohne Fluchwörter. Ich verbringe diesen Nachmittag in den Bergen. Gucke in die Landschaft. Wusle durchs Gelände. Schreibe an meinem Lost Souls Manuskript, habe Fenster geputzt, einen neuen Spiegel aufgehängt und die letzten Korrekturarbeiten am Übungsmaterial für zwei neue da bux Bücher vorgenommen. Die Rehe haben unsere Trauben gefressen und die Blätter des Rebstocks grad dazu, die Blüten des Hibiskus scheinen ihnen auch geschmeckt zu haben. Die Vögel haben sich an unserem Holunder gütlich getan - wir mussten ihn anderswo zusammensuchen, um zu unserem "Holderhungg" zu kommen. Dafür ersaufen wir in Brombeeren. Die scheinen weder die Rehe noch die Vögel zu mögen. 

Sonntagnachmittag in den Bergen. Herbstfarben. Bachrauschen. Putzlappen auf dem Balkongeländer. Ein Blogpost, der doch noch geschrieben wurde. Sonntagnachmittag.