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Freitag, 4. November 2022

Übers Schreiben und Schubladen

Sandkasten-Alice, irgendwann in den Sechzigern        

Mein Leben lang habe ich aus mir hinausgeschrieben, was mich beschäftigte, was mir gefiel, was ich selber gerne lesen würde. Ich war ein obdachloser Aussenseiter (in no way out), ich war eine ziemlich zickige junge Frau (in Matchbox Boy), ich war ein zwölfjähriger Junge, der gerne mutig, wild und frei wäre (in Ich, Onkel Mike und Plan A), ich war eine junge Frau, die auf der Suche nach sich selbst ihre Seele verlor (Kata in Lost Souls), ich war ein verzweifelter Jugendlicher, der sich hinter viel Rebellentum versteckte (in Blackout) ...

Diese Auflistung könnte ich endlos weiterführen. Die Kurzfassung: Ich war sehr viele, die ich nicht bin. Ich tat in meinen Büchern sehr vieles, das ich nie im Leben tun würde. Ich war mutiger, wilder, frecher, freier und oft sehr viel brutaler und düsterer als mein wahres Ich. Und trotzdem war in all diesen Figuren doch etwas von mir drin. 

Nie, nicht eine Sekunde, habe ich darüber nachgedacht, ob es mir zusteht, in meinen Büchern sehr viel jünger und oft auch noch männlich zu sein und Leben zu schreiben, die ich nicht führe. Schreiben bedeutet nämlich andere Leben leben. Ich schreibe deshalb Fiktion, weil ich nicht über eine ältere Frau mit Kniebeschwerden, gelegentlich heftiger Schlaflosigkeit, einer komischen Frisur und wunderbar normalen Hobbys (also mich) schreiben will.

Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, als ich meiner Psychologielehrerin erklärte, ich hasse Schubladendenken. Und heute? Hüpfen die Menschen freiwillig in Schubladen, schreiben sie gross an und tippen dann aus ihren Schubladen hinaus vornehmlich virtuell und leider auch oft laut und schrill und anklagend, wie beschissen es sich anfühlt, in dieser Schublade zu leben. Sie zeigen mit dem Finger auf andere, die nicht in Schubladen wollen, ja, denen sie vorwerfen, sich in ihren Schubladen zu bedienen und dann in freier Bahn zu grasen. Der Vorwurf der Aneignung ist nur einen Grashalm entfernt. Keine OWN-Voice, heisst es. Schreib über das, was du selber erfahren hast, über das was du bist und lebst.

Denken wir doch den Gedanken der Own-Voice mal zu Ende. Ich schreibe Krimis und Thriller. Muss ich jetzt erst mal ein paar Menschen einschüchtern, überfallen, umbringen? So von wegen OWN-Voice? Oder dürfen nur noch Kriminelle Krimis schreiben? Und selbst wenn wir nicht so weit denken: Muss ich jetzt für den Rest des Lebens Bücher über alte, schlaflose Frauen mit Kniebeschwerden und langweiligen Hobbys schreiben? Ja, und dürfte sich denn diese Prota überhaupt verlieben, oder wäre das schon Betrug an meinem Ehemann? Und selbst wenn ich all das richtig machen und in meiner VERY-OWN-VOICE schreiben würde - dann wäre es auch wieder nicht recht, denn dann wäre ich eine dieser typisch egoistischen alten, weissen Frauen, die man getrost auch noch Boomer nennen und pauschal für sämtliches Elend der Welt verantwortlich machen darf. (Ja, ihr lest richtig zwischen den Zeilen: Mich gurkt das völlig Übertriebene einer ursprünglich guten Bewegung mittlerweile nur noch an).

Abseits vom Schreiben befindet sich Harry Styles in einem Shitstorm, weil er es wagt, sich anzuziehen, wie er sich anzieht (ich habe in diesem Zusammenhang ein neues Wort in einer langen Reihe neuer Wörter gelernt: Queerbaiting). Und ein achtzehnjähriger Schauspieler fühlte sich nach monatelangen Hassangriffen gezwungen, sich auf Twitter zu outen, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte, gejagt von super-woken Menschen, die für sich die Toleranz zentnerweise beanspruchen und selber ungefähr so viel haben, wie sie in einen halben Fingerhut passt. Ich glaube, das ist es, was mich am meisten stört an der Sache. Wenn jemand in eine Schublade gedrängt wird, tut mir das unendlich leid. Wenn jemand Dinge nicht tun kann, weil er oder sie in eine Schublade gesteckt wird, dann ist das ungerecht und schmerzt. Wenn jemand freiwillig in eine Schublade hüpfen will, von mir aus. Wenn jemand dafür toleriert und akzeptiert werden will. Auch sehr gerne. Wenn jemand nur diesen Weg sieht, auf sein Anliegen, sein Wesen und sein Leben aufmerksam zu machen: Ich verstehe es, und es tut mir weh. Aber es ist so: Toleranz und Respekt sind keine Einbahnstrasse.

Ich möchte im Leben und Schreiben das, was ich ein Leben lang gewollt habe: Als Mensch gesehen werden, mit allen Unzulänglichkeiten, Fehlern und guten Seiten. Ich bin weit mehr als eine alte, weisse, abgehalfterte Boomerin, ich bin ein Mensch mit unzähligen Facetten. In meinen sechzig Lebensjahren habe ich einiges falsch gemacht, aber auch für vieles gekämpft, das heute eine Selbstverständlichkeit ist. Ich weigere mich nach wie vor, mich in einer Schublade einsperren zu lassen. Für meine Herkunft, die mich geprägt hat, kann ich nichts; ich bin dankbar dafür, aber sie ist weder meine Schuld noch mein Verdienst. Meine Eltern haben mir Toleranz, Liebe und Wertschätzung mit auf den Weg gegeben. Und die Zuversicht, dass ich alles sein kann. Deshalb  schreibe ich weiterhin aus genau den Perspektiven, die mich interessieren. Und zwar wie seit eh und je: Mit sehr viel Respekt vor dieser Perspektive.